Cover
Titel
Der überforderte Mensch. Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout


Autor(en)
Kury, Patrick
Reihe
Campus Historische Studien 66
Erschienen
Frankfurt am Main 2012: Campus Verlag
Anzahl Seiten
342 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Niklaus Ingold

«Stress» ist ein allgegenwärtiges medizinisches Konzept. Die Schlagzeilen zum «Dichtestress» in Schweizer Medien vor und nach der Abstimmung über die «Masseneinwanderungsinitiative» im Frühjahr 2014 liefern Anschauungsmaterial. Sie stellen eine neue Episode des «wissenschaftliche[n] und mediale[n] Grossereignisses Stress» (S. 11) dar, dessen Geschichte Patrick Kury in wissenschaftlichen, populärwissenschaftlichen und journalistischen Publikationen untersucht. Im deutschen Sprachraum wurde Stress zwischen 1975 und 1977 zum «Massenphänomen» (S. 11), als mehrere medizinische Konferenzen zu Stress stattfanden und der Spiegel und das Zweite Deutsche Fernsehen Einblicke in die Labors der Stressforschung vermittelten. Bei dieser «diskursive[n] Explosion» (S. 224) von Stress erlangte auch der «Dichtestress» erstmals grössere Bekanntheit: Er war damals die Ursache körperlicher Veränderungen, die enges Zusammenleben bei einer südostasiatischen Spitzhörnchenart auslöste. Woher aber war der Stress gekommen?

Mit der Neurasthenie, also mit der Belastungskrankheit schlechthin des ausgehenden 19. Jahrhunderts, hatte der Stress anfänglich wenig gemeinsam (Kapitel 3). Für die Neurasthenie war die Annahme krankmachender Folgen der Beschleunigung des Lebens durch neue Kommunikations- und Transportmöglichkeiten konstitutiv gewesen. Stress hingegen nahm als ein physiologisches Konzept Gestalt an, das allein auf Vorgänge im Körperinnern fokussierte. 1946 bezeichnete der in Wien geborene und in Kanada forschende Endokrinologe Hans Selye mit «Stress» einen Zustand, in dem eine Herausforderung den Menschen- oder Tierkörper belastet und eine Anpassungsleistung erforderlich macht.

Stress hat aber nicht nur einen Herkunftsort. Die Grundlage von Selyes Stresskonzept bildete das endokrinologische Körpermodell, demzufolge das Funktionieren der Lebensprozesse von einem durch Sekrete regulierten inneren Gleichgewicht abhängig ist (Kapitel 4). Es kam 1935 in einer Arbeit des amerikanischen Physiologen Walter B. Cannon erstmals zusammen mit dem in den Materialwissenschaften gebräuchlichen Wort stress vor. Cannon bezeichnete seit 1914 unspezifische Herausforderungen für den Körper als stress. Zudem benutzten im angelsächsischen Raum Aviatikexperten der Zwischenkriegszeit und Militärpsychiater der 1940er Jahre stress als Sammelbegriff für physische und psychische Dauerbelastungen und für die von diesen hervorgerufenen Störungen. Selye gab diesem Stressbegriff eine naturwissenschaftliche Grundlage, indem er ihn mit dem von ihm erforschten General Adaption Syndrom (GAS) verband. Nicht zuletzt wegen Selyes Wissenschaftsmanagement setzte im angelsächsischen Raum und in Skandinavien daraufhin eine breite wissenschaftliche Rezeption des physiologischen Stresskonzepts ein, in deren Verlauf die Parallelen zur Neurasthenie zunahmen (Kapitel 5). Unter dem Einfluss von Sozialmedizin, Psychologie und Psychosomatik entstand ein neues psychosoziales Stresskonzept, das die Aufmerksamkeit auf die äusseren Faktoren lenkte, die im Alltag Stress verursachten.

Im deutschsprachigen Raum fand vorerst keine vergleichbare Etablierung der Stressforschung statt. Stattdessen kam es zur Popularisierung der «Managerkrankheit » (Kapitel 6). Sie ordnete das Sprechen über Belastungen des Wiederaufbaus und ermöglichte Kritik am leistungs- und konsumorientierten Lebensstil der 1950er und 1960er Jahre. Konzeptionell schloss die Managerkrankheit an die Neurasthenie an. Auch ihre kulturkritische Komponente beruhte auf älteren Vorstellungen, unter anderem auf Bestandteilen nationalsozialistischer Zivilisationskritik. Kury spricht deshalb von einer «Brückenfunktion der Managerkrankheit» (S. 147). Er führt diese Belastungskrankheit als Hindernis ein, das die Rezeption der Stressforschung in Westdeutschland, Österreich und in der Schweiz verzögerte. Hinzu kam, dass die deutsche Endokrinologie unter dem NS-Regime den Anschluss an die Spitzenforschung verloren hatte (Kapitel 7). Ähnliches gilt für Psychiatrie und Psychologie: Sie suchten die Ursachen psychischer Störungen nicht in äusseren Faktoren, sondern in der individuellen Veranlagung.

In den 1970er Jahren steigerten neue Debatten über Umweltschutz und Lebensqualität dann aber doch das Interesse am psychosozialen Stresskonzept (Kapitel 8). Es eignete sich, um Mensch-Umwelt-Verhältnisse zu denken. Zudem begünstigte die Neuausrichtung des Gesundheitswesens auf vorbeugende Massnahmen die Verbreitung von Ratgebern, die das psychosoziale Stresskonzept als Grundlage für Empfehlungen zur Selbstführung nutzten. Allerdings wurde die Selbstführung zunehmend zu einer Funktion der Selbstoptimierung, die Kury als Reaktion auf die anhaltende Beschleunigung der Arbeitswelt beschreibt (Kapitel 9). Das Scheitern der individuellen Anpassung konnte zum «Burnout», einer emotionalen Erschöpfung, führen.

Mit dieser Genealogie medizinischer Belastungskonzepte schliesst Kury für den deutschen Sprachraum eine Forschungslücke. Ihm gelingt es, die Eigenheiten der deutschsprachigen Rezeption der transnationalen Stressforschung herauszuarbeiten. Zugleich regt er zur Beschäftigung mit der Geschichte der vorbeugenden Medizin nach 1945 und vor AIDS an. Kury zeigt, dass mit Stresskonzepten immer auch politische Fragen verhandelt wurden. Während Ratgeberautorinnen und -autoren Individuen zu präventivem Handeln anhielten, thematisierten andere Gesundheitsexperten die Grenzen individueller Anpassungsfähigkeit. Das ist eine für die Gouvernementalitätsforschung interessante zeitgenössische Debatte über die Aufteilung der Verantwortung für die gute Gesundheit zwischen Gesellschaft und Individuum. Kury spricht von einer «Entvergesellschaftung gesellschaftlicher Problemlagen» (S. 297). Ein stärkerer Einbezug des Risikofaktorenmodells, das den Blick westlicher Präventivmedizin auf chronische Krankheiten nach 1950 zu prägen beginnt, hätte eine weitergehende medizinhistorische Kontextualisierung dieser Erkenntnis erlaubt.

Zitierweise:
Niklaus Ingold: Rezension zu: Patrick Kury, Der überforderte Mensch. Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout, Frankfurt/New York: Campus Verlag, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 65 Nr. 3, 2015, S. 505-506.